Zeitzeuge Jurek Szarf
"Haben Sie jemals an Rache gedacht?"
Januar 2019 - Nach einer besonderen Schulstunde waren sie minutenlang stumm, wohl fassungslos über das gerade Gehörte: Schüler der neunten und zehnten Klasse der Arnesboken-Schule. Was Jurek Szarf (85), einer der letzten Zeitzeugen des Holocaust, ihnen erzählt hatte, machte sie vorübergehend zu einer "Silent Class", obwohl der freundliche, keineswegs einschüchternde alte Herr sie zum Fragen ermunterte. Seine schrecklichen Erlebnisse als Kind im Ghetto Lodz und in Konzentrationslagern hatte Szarf nüchtern und sachlich erzählt und zwischendurch auch seinen Humor aufblitzen lassen. Als endlich der erste Schüler sich mit einer Frage vorwagte, war das Eis gebrochen und sie erfuhren unter anderem, dass Jurek Szarf heute noch nachts Alpträume hat, von der SS abgeholt zu werden, dass er sich jedesmal umdrehen muss, wenn er klackende Schrittgeräusche hinter sich hört, die ihn an Soldatenstiefel erinnern. Er sei lange nicht in der Lage gewesen, seine Erlebnisse zu erzählen.
© Arnesboken-Schule SchülerInnen der Arnesboken-Schule mit Jurek Szarf.
© Arnesboken-Schule Jurek Szarf, einer der letzten Überlebenden des Holocaust, spricht - wie hier in Ahrensbök - oft vor Schülern.
Schließlich fragte ein Schüler: "Haben Sie jemals an Rache gedacht für das, was man Ihnen angetan hat?" Mit einem entschiedenen "Nein" antwortete Jurek Szarf und erzählte, wie sich sein Vater bei der Befreiung aus dem KZ Sachsenhausen durch russische Soldaten verhalten hatte. Als man schon Geschützdonner der heranrückenden Roten Armee hörte, waren er als Zwölfjähriger, sein Vater und sein Onkel aus der Krankenstation gezerrt und - bereits mehr tot als lebendig - zum Erschießen an die Wand gestellt worden.
© Arnesboken-Schule Nach der Exekution wollten sich Wachpersonal und die SS-Leute sicherlich aus dem Staub machen. Die Befreier hatten aber im buchstäblich letzten Moment das Lager gestürmt. Jurek Szarfs Onkel bekam von einem der Rotarmisten ein Gewehr in die Hand gedrückt und das "Angebot", seine Peiniger eigenhändig zu erschießen. Der Onkel sagte nein.
Vor der Befreiung aus dem Lager Sachsenhausen lag für Jurek Szarf ein langer Leidensweg. 1939, als er sechs Jahre alt war, endete die Geborgenheit seiner sorglosen Kindheit jäh. Die Tür zur elterlichen Wohnung in einem gutbürgerlichen Wohnhaus in Lodz (von den Nazis Litzmannstadt genannt) wurde von SS-Stiefeln eingetreten, der kleine Jurek von einem der Soldaten an die Wand geworfen. Die Verletzungen heilten, doch die Familie, bestehend aus Vater, Mutter, Onkeln und einer Tante, musste wenig später das ausgeraubte Haus verlassen und wie alle Einwohner jüdischen Glaubens in eine enge Unterkunft im mittlerweile eingezäunten Ghetto ziehen. Befehlshaber über das Ghetto war ein gewisser Hans Biebow, der die Bewohner - auch alte Menschen und Kinder - bei schlechter Ernährung Zwangsarbeit verrichten ließ (Uniformen nähen und Ausrüstungsmaterial für die Wehrmacht produzieren). Szarf berichtete, dass Biebow mit einem Cabrio durch die Straßen fuhr und aus dem Auto heraus Menschen erschoss. Szarfs Tante war, da sie gut deutsch sprach und schrieb, von Biebow als seine Sekretärin bestimmt worden. Das war ein Glück für Jurek und Familie, denn er durfte bei ihr bleiben, als alle anderen Kinder aus dem Ghetto (wie auch Alte und Kranke, die nicht arbeiten konnten) in Todeslager deportiert wurden.
Als das Ghetto schließlich aufgelöst wurde, musste aber auch seine Familie ins KZ, zunächst nach Ravensbrück. Während viele Menschen in der Enge der überfüllten Waggons erstickten, fand Jurek eine Ritze in der Wagenwand, durch die er Luft bekam. "Ravensbrück war die Hölle!" erinnert sich Jurek Szarf. "Da gab es nur ein wenig Brot und Wassersuppe, und die Läuse haben meine Beine so angefressen, dass sie nach Kriegsende beinahe amputiert worden wären", berichtete er. Später ging es ins KZ Königs Wusterhausen, zuletzt nach Sachsenhausen. Überlebt haben aus seiner Familie nur er, sein Vater und ein Onkel. Seine Mutter war verhungert, seine typhuskranke Tante war auf dem Transport nach Auschwitz aus einem fahrenden Zug geworfen worden. Von 1951 an lebte Jurek Szarf in den USA und arbeitete dort unter anderem in der Filmbranche. 1972 kam er zurück nach Deutschland. Er lebt jetzt in der Nähe von Lübeck. Auf Fragen von Schülern sagte er, er fühle sich hier sicher, denn Deutschland sei eine Demokratie. Er sieht es als seine Aufgabe, die Erinnerung an das in der Nazizeit Geschehene wach zu halten.
© Online-Reporter Eutin vom 07.02.2019
Heimlich aufgenommene Fotos aus dem Ghetto Lodz.
Bild oben: Eine Frau und ihre Kinder nehmen Abschied von einem Jungen, der deportiert werden soll.
Unten l.: Viele Kinder erhielten nur zweimal am Tag eine wässrige Suppe.
Unten r.: Die deutschen Besatzer ordneten im Herbst 1942 an, ihnen die Kinder des Ghettos und alte Menschen auszuliefern; viele wurden nach Kulmhof (Chelmno nad Nerem) gebracht und dort ermordet.
aus: Online-Reporter Eutin vom 07.02.2019
Erinnerungen an die Schrecken des KZ
Januar 2019 - Der 85-jährige Holocaust-Überlebende Jurek Szarf sprach in der Arnesbokenschule in Ahrensbök vor Schülern des 9. und 10. Jahrgangs. Er berichtete von Hunger, von Läusen und davon, dass er überzeugt davon war, kein Mensch zu sein.
Zeitungsartikel der Lübecker Nachrichten vom 28.01.2019 (Susanne Peyronnet)
Ahrensbök - Nach der Befreiung, im Alter von 14 Jahren, ging Jurek Szarf nicht ins Kino. Denn ins Kino gehen nur Menschen. "Ich dachte, ich bin kein Mensch mehr. Wenn du immer beleidigt wirst, keinen Namen mehr hast und nur eine Nummer bist, immer nur Drecksjude oder Saujude genannt wirst, dann bist du überzeugt, kein Mensch mehr zu sein." Es ist diese direkte Art, mit der der heute 85-jährige Jurek Szarf seine jungen Zuhörer erreicht. So wie am Montag in der Arnesbokenschule in Ahrensbök erzählt er seine Lebensgeschichte immer und immer wieder in Schulen. Ausführlich, manchmal im Schrecken noch witzig, aber immer mit einer Eindringlichkeit, die seine Kindheit und Jugend hinter Stacheldraht und im Angesicht des Todes spürbar werden lässt.
Das Ausgeschlossensein, dass er später fürs Kino empfand, begann früh. Als er sechs Jahre alt ist, darf er sich nicht auf eine Bank setzen, weil er Jude ist. "Ich wusste nicht, was Jude, Christ oder Atheist ist", erzählt er. Geboren und aufgewachsen im polnischen Lodz, hat der Knirps im Mai 1940 seine erste Begegnung mit den Nazis. Die SS stürmt die Wohnung seiner Eltern, schleudert den Jungen gegen eine Wand. Als er wieder zu sich kommt, findet er sich im Ghetto in Lodz wieder.
Die große Unwissenheit
Dort wütet Hans Biebow, der Verwaltungschef des Ghettos. Er veranlasst, dass zunächst die alten " alle Menschen mit weißen Haaren " und dann die Kinder unter zehn Jahren weggebracht werden. "Wohin? Vergast? Verbrannt? Wir wussten es nicht", berichtet Szarf den Schülern. Wie ein roter Faden zieht sich das Nichtwissen durch seine Erzählung. Er ist zu jung, die Opfer haben zu wenige Informationen, um zu verstehen, was mit ihnen geschieht. Szarf macht den großen Unterschied deutlich zwischen der damaligen Ahnungslosigkeit und dem, was heute bekannt ist.
Der Deportation entging der kleine Jurek nur, weil seine perfekt Deutsch sprechende Tante für Hans Biebow arbeitete. "Er war Alkoholiker. Sein Hobby war es, Leute zu erschießen aus seinem Cabrio heraus. So wie andere Karnickel erschießen, erschoss er Menschen. Das war ja kein Problem, Juden waren ja keine Menschen." Da ist sie wieder, die Entmenschlichung, die Szarf seine ganze Kindheit hindurch erlebte.
© Arnesboken-Schule
Die Schüler der Klassenstufen 9 und 10 hören Jurek Szarf gebannt zu.
Fotoquelle: Susanne Peyronnet
Bis 1944 überlebt seine Familie im Ghetto, leistet Zwangsarbeit, hungert. Dann beginn die Odyssee der Szarfs durch verschiedene Konzentrationslager. Die Lage wird immer schlimmer, ein Familienmitglied nach dem anderen findet den Tod. Jurek Szarf und sein Vater landen im KZ Ravensbrück. "Es war die Hölle. Da waren Tausende von Läusen. Die haben mir die halben Beine weggefressen." Die Befreiung kommt in Sachsenhausen. Jurek, sein Vater, sein Onkel Pawel und etwa 30 andere stehen, die Hände erhoben, für die Hinrichtung vor einer Wand. "Wir warteten auf die Schüsse. Ich konnte nicht mehr stehen und bin hingefallen." Da stürmen russische Soldaten den Raum. Die Rettung in letzter Sekunde. Den Holocaust haben nur Jurek, sein Vater und zwei seiner Onkel überlebt.
"Würden Sie gerne Rache nehmen?", möchte ein Schüler wissen. "Nein, Rache ist verboten im Judenturm", antwortet Szarf. Ob er Angst habe, dass sich so etwas wiederholen könne. "Nein, das liegt in unserer Hand. Wir sind Demokraten." Dass der Junge Jurek nie eine Schule besucht hat, aber dennoch in seinem weiteren Leben beruflich erfolgreich war, hat Finja (16) besonders beeindruckt. "Das mit der Zwangsarbeit hat mich schockiert, dass er mit sieben Jahren arbeiten musste", sagt sie nach dem Vortrag. Jasper (17) ist froh, "dass es immer noch Menschen gibt, die das miterleben mussten, das bringt es einem sehr nahe".
Zeitzeuge Jurek Szarf erzählt seit Jahren in Schulen von seiner Kindheit im Ghetto Lodz
und in den Konzentrationslagern der Nazis.
Quelle: Susanne Peyronnet
Einer der letzten Zeitzeugen
Szarf, der bis heute wegen seiner Erlebnisse in psychotherapeutischer Behandlung ist, ist seit Jahren in Schulen unterwegs, um seine Geschichte zu erzählen. "Ich arbeite ohne Konkurrenz, weil fast niemand mehr lebt. Ich bin ein gefragter Zeitzeuge, leider." Am Freitag spricht er vor Oberstufenschülern des Ostsee-Gymnasiums in Timmendorfer Strand. Dort werden im Rahmen einer Gedenkstunde von Teilnehmern einer Auschwitz-Fahrt symbolisch sechs Kerzen für sechs Millionen ermordete Juden entzündet.
Textquelle: Susanne Peyronnet
aus: ln-online vom 28.01.2019